Wer als Naturliebhaber in Israel lebt und nicht nur die Errungenschaften, wie Tropfbewässerung, Hydrokultur und Wasserentsalzung beobachtet, gewinnt den Eindruck, dass Israelis, ob Juden oder Araber, nicht viel Sinn für die Umwelt haben. Gemessen an den Mengen von Müll, den sie überall hinterlassen, scheint ihnen das Land ziemlich egal zu sein. Gemeint sind nicht nur Plastikflaschen, Plastiktüten, Wegwerfgeschirr, Bierflaschen oder Dosen. Nein, man findet da abgenützte Sofas und Stühle, Matrazen und natürlich jede Menge Windeln und Feuchttücher.
Am 15. Tag des Monat Schwat feiert das jüdische Volk dann jedes Jahr allerdings eine Art Umweltfest: Das Neujahr der Bäume. Das Datum hat im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung die Schule des Hillel als Übergang vom alten ins neue landwirtschaftliche Jahr bestimmt. An diesem Tag sollte die Abgabe des Zehnten vom Ertrag des Feldes für das vorangegangene Jahr festgelegt werden. Im aktuellen Jahr 5783 fällt der 15. Schwat auf den 6. Februar 2023. Der Schwat ist der elfte Monat des jüdischen Kalenders, in dem man den Frühling schon kommen spürt. Der Name „Schwat“ kommt im Buch Sacharia vor (1,7).
Das Wort „TU“, beziehungsweise die hebräischen Buchstaben „Tet“ und „Vav“ stehen für die Zahl „15“. Jeder Buchstabe im hebräischen Alphabet hat einen Zahlenwert. „Tet“ und „Vav“ sind die Zahlen „9“ und „6“. Warum nicht „10“ und „5“, wie in der lateinischen Rechnung? – Weil diese Zahlen als Buchstaben „Jud“ und „Hej“ geschrieben würden, „JaH“, was der Anfang und eine Abkürzung des biblischen Namens Gottes ist, die wir gewöhnlich als „Herr“ übersetzen. Diese Abkürzung kommt beispielsweise in der Aufforderung: „Hallelu Jah“ – „Lobet den Herrn“ – vor. Juden sind sehr vorsichtig. Um den heiligen Namen nicht zu missbrauchen, nehmen sie die Zahlen „9“ und „6“ anstelle von „10“ und „5“, um den Zahlenwert „15“ darzustellen.
Aus dem 17. Jahrhundert ist ein Buch erhalten, in dem die „Seder TuBiSchwat“, die Liturgie des Festes TUBiSchwat, aufgezeichnet wurde. Diese „Ordnung“ („Seder“) wird auch heute mit manchen Veränderungen und Ergänzungen benützt. Im Rahmen dieser Liturgie trinkt man vier Kelche Wein, die für die vier Jahreszeiten stehen, und rezitiert Passagen aus der Thora, den Propheten und der Mischna. Man genießt die Früchte des Landes Israel, das heißt, vor allem die so genannten „sieben Arten“, die für Israel charakteristisch sind: „Denn der Herr, dein Gott, führt dich in ein gutes Land… ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen, ein Land, darin es Ölbäume und Honig gibt“ (5. Mose 8,7-8) – wobei der Honig Dattelhonig ist.
Mit der Rückkehr der Juden in das Land, wurde das Bäumepflanzen wieder aufgenommen. Im Jahr 1890 pflanzte der Lehrer und Dichter Se‘ev Jabetz erstmals mit einer Gruppe von Schülern in dem Städtchen Sichron Ja‘akov am 15. Schwat im Rahmen einer Feier neue Bäume. 1908 ernannte die Lehrergewerkschaft diesen Tag zum offiziellen Baumpflanzfest und später übernahm der Jüdische Nationalfond „Keren Kajemet LeIsrael“ die Idee. In seiner heutigen Form kann man das Fest allerdings nur im Land Israel feiern, was aus dem Vers in 3. Mose 19,23 abgeleitet wird: „Wenn ihr in das Land kommt und allerlei Bäume pflanzt…“ – dies fasst das jüdische Volk als Gebot auf.
Ein Baum ist in Israel nichts Selbstverständliches und Tu BiSchwat ist immer eine Gelegenheit, sich an alle Vorzüge der Bäume zu erinnern. Das betrifft nicht nur die Obstbäume, sondern Bäume überhaupt. Jeder, der in heißen Zonen wohnt, weiß das wertvolle und lebensnotwendige Geschenk der Bäume zu schätzen, den Schatten. Im antiken Denken wurde der Schatten als die erste Frucht eines Baumens betrachtet.
Bäume schützen nicht nur vor der Sonne, sondern auch vor Stürmen, speichern das Regenwasser und beleben den Erdboden. Der aus Tschechien stammende Ja‘akov „Jenda“ Feldmann gehörte zu den Gründern der heutigen Hotelstadt Eilat, die am südlichsten Zipfel Israels, am Roten Meer liegt. Er erklärte, dass durch die Bäume die Temperaturen in der Wüstenstadt um bis zu 10 Grad Celsius gesenkt werden konnten.
Jedes Jahr werden Hunderttausende von Setzlingen vorbereitet, hauptsächlich Zypressen, Zedern, Kiefern, Eichen und Eukalyptusbäume. Die Eukalyptusbäume sind am größten, können sich aber nicht selbst aussamen. In einer Höhe von zwanzig Metern werden ihre Früchte gesammelt, aus denen dann die Samen gewonnen werden. Schüler, Soldaten, Familien und Touristengruppen treffen sich zum organisierten Bäumesetzen.
Beim Setzen der Bäume wird ein Gebet rezitiert. Darin wird der himmlische Vater gebeten, das Volk Israel und das Land, das er ihren Vorvätern verheißen hat, zu segnen. Dabei wird weiter um Regen und Tau, um Segen für alle Pflanzen und die gesetzten Bäume gebetet. Außerdem heißt es da: „Verwurzele auch uns im Land der Väter, segne uns, damit wir mit diesen Bäumen wachsen und durch uns alle Völker der Erde gesegnet werden.“
Es gibt viele rabbinische Auslegungen aufgrund des biblischen Vergleichs von Bäumen mit Menschen, wie beispielsweise in Psalm 1: „Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit“ (Psalm 1,3). Oder: „Die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes“ (Jesaja 65,22) und: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon“ (Psalm 92,13).
Nach der Bibel haben Bäume und Menschen vieles gemeinsam, sie haben ihre Wurzeln und ihr Leben bringt gute oder schlechte Früchte, je nachdem, wo sie gepflanzt sind und wovon sie getränkt werden: „Die gepflanzt sind im Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen unsres Gottes grünen. Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein, dass sie verkündigen, wie der Herr es recht macht…“ (Psalm 92,14-16). Eine der in der jüdischen Tradition zum Neujahrsfest der Bäume am meisten gebrauchten Schriftstellen stammt aus 5. Mose 20,19: „Ein Mensch ist ein Baum auf dem Felde.“ Überraschenderweise handelt es sich um einen aus dem Zusammenhang gerissenen Text, der von Luther logisch übersetzt wurde: „Die Bäume auf dem Felde sind doch nicht Menschen, dass du sie belagern müsstest!“
Das Neujahrsfest der Bäume wird wie alle anderen Feste auch in den Kindergärten und Schulen des jüdischen Staates gefeiert. Wie hätte ich sonst das wunderbare Gedicht der israelischen Schriftstellerin und Dichterin Datja Ben Dor kennenlernen können, das ich hier für unsere Leser vom Hebräischen ins Deutsche übersetzt habe:
Datja Ben Dor
Wie ist es, ein Baum zu sein?[1]
Ich fragte einmal einen Baum:
„Wie ist es, Baum, ein Baum zu sein?“
„Du machst Dich bestimmt lustig“,
sagte der Baum.
„Auf keinen Fall“, sagte ich,
„das kaum.“
„Ich frag‘ ganz ernst, sag‘ echt!
Ist es denn gut oder schlecht?“
„Schlecht?“, staunte der Baum. „Warum?“
„Weil du die ganze Woche steckst! Darum.“
„Ich stecke nicht!
Mann pflanzte mich!“
„Hast du es nicht schon mal versucht,
zu Freunden zu gehen zu Besuch?
Zu sehen einen andren Ort?“
„Meinst du zu laufen von hier nach dort?
Ich seh‘ den ganzen Horizont…“
„Umherzuirren, mich bewegen?
Die Vögel singen meinetwegen,
die Schmetterlinge küssen mich
und der Wind, der streichelt mich.“
„Und nachts, wenn alle schlafen, dann?“
„Dann ich die Stille hören kann,
das Atmen der Erde,
das Reifen der Früchte
die Tautropfen, die vom Himmel fallen,
die Vöglein, die in meinen Zweigen schlafen…
Über dem Allem muss ich wachen.“
„Ich lieb‘ dich, sagte ich zum Baum
In meinen Garten ging ich dann
und pflanzte einen neuen Baum,
den ich vom Fenster sehen kann.“
[1] Das hebräische Original dieses Gedichts finden Sie unter https://shironet.mako.co.il/artist?type=lyrics&lang=1&prfid=1743&wrkid=7264.
Die Autorin
By Krista GerloffPublished On: Februar 5, 20236.4 min read